„Wir setzen Impulse für eine Kreislaufwirtschaft“
Ehrgeiziges Forschungsprojekt von thyssenkrupp MillServices & Systems: Roheisen-Entschwefelungsschlacke soll vollumfänglich recycelt und in mehreren Industriezweigen wiederverwendet werden. Ein Interview mit dem Projektleiter Dr. Michael Dohlen.
Herr Dr. Dohlen, Sie wollen die bei der Entschwefelung von Roheisen entstehende Schlacke vollumfänglich recyceln. Was genau haben Sie vor?
Das ist schon mal wichtig: Es geht nicht um die klassische Hochofenschlacke, sondern um diejenige Schlacke, die bei der anschließenden Entschwefelung des Roheisens entsteht. Davon wandert bisher ein Teil zurück in den Hochofen und wird dort wiederverwertet. Aber eben nur ein Teil. Der Rest wird überwiegend entsorgt, was eine Verschwendung von Rohstoffen ist. Die wollen wir wiedergewinnen und für verschiedene Industriesparten nutzbar machen, etwa in der Zementindustrie und in der Landwirtschaft.
Wie entsteht denn Roheisenentschwefelungsschlacke?
Dazu müssen wir uns das Prinzip des Hochofens anschauen. Ein Hochofen wird von oben schichtweise mit Eisenerz, schwefelhaltigem Koks und Zuschlagsstoffen wie Kalkstein beschickt. Von Unten wird heiße Luft eingeblasen. Durch das entstehende Kohlenstoffmonoxid werden die Eisenoxide reduziert. Unten sammelt sich flüssiges Roheisen, das in regelmäßigen Abständen abgestochen wird. Dabei entsteht auch die klassische Hochofenschlacke. Bevor nun aber das flüssige Roheisen in das Stahlwerk geht, muss der Schwefelgehalt gesenkt werden. Bei diesem Prozess entsteht die Roheisenentschwefelungsschlacke.
Wie läuft der Prozess ab?
In den Entschwefelungsanlagen werden dem Roheisen Calciumverbindungen zugeführt. Das Calcium reagiert mit dem Eisensulfid, dabei wird Schwefel zu Calciumsulfid. Die dabei entstehende Schlacke enthält kalkhaltige Mineralien, Schwefel und Eisen. Sie schwimmt im Flüssigeisen obenauf und wird abgeschöpft. Anschließend wird sie abgekühlt und physikalisch gebrochen. Dann werden mit Hilfe von Magneten und Sieben die verschiedenen Fraktionen herausgetrennt.
Woraus bestehen die Fraktionen?
Fraktionen nennen wir die unterschiedlichen Korngrößen. Wir unterteilen aufgrund der Korngröße in die drei Fraktionen Feineisen, Bröckeleisen und Haldeneisen. Bröckeleisen und Haldeneisen können gut wieder im Hochofen eingesetzt werden. Feineisen mit einer Korngröße von unter 10 Millimetern ist aber aufgrund des hohen Schwefelgehaltes sehr schwer zu verwerten. Teilmengen werden in der Sinteranlage eingesetzt, der Rest wandert meistens auf die Deponie.
Hier kommt Ihr Forschungsprojekt ins Spiel. Von welchen Größenordnungen sprechen wir?
Wir schätzen, dass in Deutschland etwa 450.000 Tonnen Roheisenentschwefelungsschlacke pro Jahr entstehen. Davon landet mehr als die Hälfte auf Deponien. Wir verfolgen einen Zero-Waste-Ansatz, wir wollen nahezu hundert Prozent recyceln. 200.000 Tonnen könnten in der Eisen- und Stahlindustrie wiederverwendet werden, 180.000 Tonnen in der Zementbranche und 22.000 Tonnen in der Düngermittelindustrie.
Das klingt ehrgeizig. Gibt es Vorbilder?
An sich ist Recycling in der Eisen- und Stahlproduktion nichts Neues. Eisenhüttenschlacken, insbesondere Hochofen- und Stahlwerksschlacken, werden bereits über viele Recyclingpfade im Sinne einer ressourcenschonenden Kreislaufwirtschaft eingesetzt. Und so wollen wir auch bei der Roheisenentschwefelungsschlacke verfahren: Alles soll wiederverwendet werden.
Dazu haben Sie sich Partner aus Industrie und Forschung gesucht. Wie sind die Aufgaben verteilt?
Da wäre zum einen das Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP in Valley. Wir wollen ja möglichst reines Eisen aus der Schlacke wiedergewinnen. Das funktioniert mittels der so genannten elektrodynamischen Fragmentierung, wie sie am dortigen Fraunhofer-Institut eingesetzt wird. Dabei wird das Material Blitzentladungen ausgesetzt. Die dabei entstehenden Druckwellen zerlegen das Verbundmaterial in seine Komponenten: Mineralik und Eisen.
Was ist mit den übrigen Bestandteilen?
Die mineralischen Bestandteile wollen wir in der Bauindustrie nutzen, etwa als Zuschlagsstoffe im Beton oder als Zementsubstitut. Sand ist ja aufgrund der hohen Bautätigkeit im Land schon Mangelware. Wir arbeiten eng mit dem Fraunhofer-Zentrum für Chemisch-Biotechnologische Prozesse CBP in Leuna sowie dem Südbayerischen Portland-Zementwerk Gebr. Wiesböck & Co. GmbH zusammen.
Und was geschieht mit dem Schwefel?
Das ist die dritte Säule. Wir wollen daraus ein schwefelhaltiges Düngemittel für die Verwendung in der Landwirtschaft entwickeln. Unser Partner an dieser Stelle ist die Hochschule Weihenstephan-Triesdorf, die in diesem Bereich forscht. Schwefel ist in der Landwirtschaft ein gefragtes Düngemittel. Ältere werden sich an den sauren Regen der 1980er-Jahre erinnern. Damals gelangte zu viel Schwefel aus Kraftwerken und Industrie in die Atmosphäre. Inzwischen sind die Filteranlagen derart effektiv, dass die Landwirte Schwefel zu düngen müssen. Den wollen wir liefern.
Wie geht es jetzt weiter?
Nach der erfolgreichen Ausarbeitung der Prozesskette im Labor werden wir eine Versuchsanlage aufbauen. Sie wird die Grundlage für die Weiterentwicklung der Aufarbeitung und Verwendung von Roheisenentschwefelungsschlacke bilden. Durch die enge Einbindung der anderen Industrieunternehmen sollen realitätsnahe Bedingungen entstehen. Wir wollen den Energieaufwand und die CO2-Emissionen der Recyclingprozesse soweit reduzieren, dass eine ökologische und ökonomische Tragfähigkeit gewährleistet ist. Prüfen werden wir natürlich auch den rechtlichen Rahmen einer solchen Unternehmung.
Das Projekt ist nicht nur technisch spannend, sondern auch emotional. Hinter all dem steht die Frage, ob die Industrie es schaffen kann, ihre Treibhausgas-Emissionen tatsächlich gemäß Plan der Bundesregierung zu reduzieren. Wie lebt es sich damit?
Gut, denn die Klimaziele in unserem Unternehmen sind weitaus ambitionierter als die der Bundesregierung. Das Segment thyssenkrupp Materials Services, wozu auch thyssenkrupp MillServices & Systems gehört, hat sich zum Ziel gesetzt, nicht erst 2050, sondern bereits 2030 weltweit klimaneutral zu arbeiten. Zudem wollen wir im Rahmen unseres Forschungsprojekts Treibhausgase in wichtigen Branchen wie der Stahl- und der Zementindustrie vermeiden. Damit tragen wir zum Klimaschutzplan der Bundesregierung bei. Die eigentliche Stärke unseres Projekts aber ist, dass durch die unterschiedlichen Partner die Prozesse von der Erzeugung der Schlacken über deren Konditionierung bis zur Anwendung dargestellt werden, so dass neue Kooperationen unterschiedlicher Branchen ermöglicht und Impulse für eine Kreislaufwirtschaft gesetzt werden.
Das Projekt
Das Forschungsprojekt mit dem Titel „Reduzierte Prozessemissionen in der Stahl- und Zementherstellung – Aufbereitung und Nutzung von Roheisenentschwefelungsschlacke (RESycling)“ ist am 1. Januar 2022 gestartet. Es läuft über vier Jahre und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit der Maßnahme „Vermeidung von klimarelevanten Prozessemissionen in der Industrie (KlimPro-Industrie)“gefördert. Es verfolgt das Ziel, eine ressourceneffiziente Kreislaufwirtschaft zu entwickeln und die Rohstoffabhängigkeit zu verringern.
Der Projektleiter
Dr. Michael Dohlen ist Leiter der Abteilung Forschung & Entwicklung bei thyssenkrupp MillServices & Systems. Er ist außerdem öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Ersatzbaustoffe.